Lob der Gier

Das Bankenfiasko hat eine sehr lebhafte Diskussion über die Gier ausgelöst. Bei all der Haue, die diese menschlichste aller Antriebsfedern gerade einheimst, muss jemand ihre Verteidigung ergreifen. Hier also ein halbwegs seriöser Versuch:

Der Mensch ist viel mehr “Natur” denn “Kultur”, als er wahrhaben will. Die Börse ist einer unter vielen Orten, wo Angebot auf Nachfrage, Mut auf Zaudern, kurzes Glück auf langes Elend, Träume auf Realitäten treffen. Interessant ist die gegenwärtige Krise insofern, als durch die weltweite Vernetzung der Märkte individualpsychologische Prozesse durch Massenphänomene verstärkt werden – zum Beispiel durch den Lemming-Effekt. Ohne Herdentrieb wäre einerseits keine Anti-AKW-Demo möglich, keine Armee zu befehligen, andererseits käme es auch nicht zu verheerenden Panikreaktionen auf Pilgerfahren und an Rock-Konzerten. Wieso folgt eine Gruppe dem, der sich an die Spitze stellt oder eine Richtung vorgibt, einfach mal auf Zusehen hin? Ob’s denn echte Alphatiere sind, die Richtung die richtige ist, das muss sich immer erst weisen. Die natürliche Selektion dient der Stärkung der DNA. Als lebendiger Organismus profitiert auch die Wirtschaft von periodischen Flächenbränden, tragen sie doch zur ihrer Erneuerung bei. Wurde diese Chance durch die koordinierten Interventionen, mit denen das Feuer abrupt und völlig willkürlich eingedämmt werden sollte, mit nicht absehbaren Folgen vertan?

Das Tier im Mensch
Auch der Trader ist Mensch genug, um von seinen urzeitlichen Programmierungen beherrscht zu sein – ob sie nun Gene oder Instinkte heissen, ob sich der Zoologe oder der modernere Neurobiologe damit auseinandersetzt. Mendels Vererbungslehre, Maslows Hund, die Lorenzschen Gänse, die Erinnerung an unsere Reptilienvergangenheit prägen uns bis heute: Jetzt eben lähmte uns noch die Angst, und schon im nächsten Augenblick tun wir uns schwer, angesichts einer Bedrohung die Ruhe zu bewahren, bedächtig abzuwarten, dass sich die Sturmwolken verziehen. Der globalisierte Adrenalinschub hat dann auch einen politischen Aktivismus sondergleichen ausgelöst, der nicht nur erfolglos, nein sogar kontraproduktiv war. Gelassenes Abwarten hätte wohl mehr gebracht, aufräumen kann man bekanntlich erst, nachdem der Tornado vorbeigezogen ist. Dazu rät übrigens jeder Anlageguru – zu strategischem Denken statt emotionsgeladenem Taktieren. Ebenso kennen wir die Gnade des Vergessens, ohne würde keine Frau die Qualen mehrerer Geburten auf sich nehmen. Wenn sie hingegen in Eskapismus kippt, wird sie dem krankhaften Spieler zum Verhängnis.

Sparen lohnt sich nicht
Kommt dazu, dass das Hirn vordergründig Positives höher wertet als es der Verstand geböte. Diesen Umstand machen sich clevere Marketingprofis zunutze mit Preisangaben wie “Sparen Sie jetzt! Nur 99.90 statt 120.-“. Auch hier ist es die Gier, die uns einen Gewinn von Fr. 20.10 vorgaukelt, wo wir doch de facto Fr. 99.90 ausgeben. Was ist prinzipiell daran auszusetzen? Die Gier ist ein Relikt aus Zeiten, in denen Knappheit den Alltag des Homo sapiens bestimmte. In den Steppen Afrikas entschied nicht zuletzt die Fähigkeit, auf Vorrat zu futtern, über Leben und Tod. Zudem nährt sich die Unerstättlichkeit ja auch von der Zuversicht, dass der Krug noch einmal, und noch einmal mehr zum Brunnen gehen möge.

Wenn die Aussicht auf Riesengewinne winkt – nicht nur materielle – scheint die Vernunft automatisch auf Stand-by zu schalten. Crash-Diäten sind gefährlich, und doch unterziehen sich Heerscharen von Frauen solchen Experimenten vor der Bikinisaison. Vielleicht ist es die Vorfreude auf den Tag X, wenn das Cabriolet in der Garage steht, wenn die Göttin – zwar geschwächt – aber schlank und rank erstrahlt, die auch den vorsichtigsten, gesundheitsbewusstesten Zeitgenossen zum Hasardeur werden lässt? Apropos Essen. Essen und sich Fürchten, gleichzeitig, scheint irgendwie schlecht zu gehen. Die unmittelbare Wirkung der “Zückerchen”, bzw. der Finanzspritzen scheinen das zu belegen. Deswegen wird uns auf Flugreisen ein Lunchpacket serviert. Und die meisten verspeisen es, oft zu Unzeiten, oft ohne Appetit, widerwillig fast. Oder nehmen es mit, für später. Auch das ein Zeichen von Gier? Oder sorgen wir auch hier, unbewusst, für kommende Hungersnöte vor?

Das Bedürnis nach Verstehen ist uns eigen. Gerade bei Ungeheuerlichkeit wie der Finanzkrise brauchen wir einen Schuldigen. Jede Erklärung ist da besser als gar keine. Die Gier? Warum eigentlich nicht. Kurz und bündig, 4 Buchstaben, selbsterklärend. Passt.

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