Märchenstunde mit Shiva

Der stirnbandgeschmückte Mike Shiva ist eine feste Grösse im Programm von U1. Er moderiert, zusammen mit einem wachsenden Mitarbeiterstab, eine TV-Hotline, in der er kraft seiner Tarotkarten und gegen Bezahlung von Fr. 4.90/Minute, den Ratsuchenden mit viel Einfühlungsvermögen einen Blick in die Zukunft ermöglicht. Der Ruf nach einem Verbot dieser Sendung bewog mich zu einer etwas ernsthafteren Auseinandersetzung mit dem uralten Phänomen der Scharlatanerier, die im multimedialen Zeitalter ganz interessante Blüten treibt.

Mike Shiva ist ein Hellseher ohne Glaskugel. Er erzählt dem Anrufer, was er gerne hören will. Nach diesem Prinzip funktionieren ganze Industriezweige, Werbung, Politik, Hollywood, Lebens- und Anlageberatungen. Ohne den Wunsch, ans Unmögliche glauben zu dürfen wäre keine Kosmetikfirma, kein MLM, kein Schneeball-System erfolgreich.

Dass der Handel mit Träumen floriert liegt nicht zuletzt daran, dass wir die Basics of Life partout nicht glauben wollen: „There’s no such thing as a free lunch“, mitunter eine der wichtigsten Erkenntnisse auf dem Weg zum mündigen Konsumenten. Zu deutsch: es wird dir nichts geschenkt, es kostet immer, in Zeit, in Geld, in Gefühl und Einsatz, Talent. Wenigen Reichen, Schönen, Kleveren gehört die Welt.

Make believe
Gutgetarnte Lügen halten die Welt am Laufen. Die Mächtigen und ihre Helfer bedienen sich ihrer, damit wir uns alle mit dem begnügen, was uns durch Geburt an Status, Gütern, Chancen, zugefallen ist. Ein wenig können wir uns freistrampeln, verbessern, den grossen Sprung schaffen die wenigsten und wenn, dann wechseln sie hurtigst auf die Gegenseite. Religionen sind ein Glied in der wuchtigen Kette, die die Privilegierten von den Nichtprivilegierten trennt. Früher genügten ausladende Kiefer, um einen Machtanspruch zu begründen, später gutgerüstete Armeen, Verbündete, heute tragen wir – vor allem im hochtechnisierten Westen – die Fesseln im Kopf und im Gemüt. Wenn uns jemand das Jenseits, eine hübsche Pension, ein stilles Glück, 5 Minuten Berühmtheit, den 6er im Lotto, die Riesenrendite oder Mr. Perfect verspricht sind wir brav und gefügig. Da rütteln wir kaum am Gitter unserer Bequemlichkeit. Für das trügerische Gefühl, dass jemand zum Rechten sieht, Ungemach von uns und unseren Schutzbefohlenen fernhält, dafür bezahlen wir willig mit allem was wir besitzen.

Manchmal, alle paar Jahrzehnte, erhaschen wir einen Blick auf die Realität. Zornig holen wir die Mistgabeln aus dem Stall, die Kerzen aus dem Schrank und marschieren, gegen Obrigkeit und Ungerechtigkeit. Ganz selten erschüttert ein Beben die alte Ordnung, Luftschlösser stürzen ein. Dann werden die Karten wieder gemischt und an neue Herren verteilt.

Schon der Grieche lehrte: erkenne dich selbst. Deine Vergänglichkeit, deine Unwichtigkeit, deine Schwächen. Mit diesem Wissen in der Tasche kommen wir weit. Vor allem schützt es uns gegen Rattenfänger und andere Halunken. Und lässt uns vielleicht unser ganz persönliches Glück suchen und finden, weitab vom Supermarkt der Illusionen.

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